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Kanzlei-Blog Ulrich Weber & Partner

Arbeitnehmer:innen haben ein Recht auf Unerreichbarkeit in der Freizeit

Das Thema „Arbeitszeit“ ist in der arbeitsrechtlichen Praxis weiterhin hochaktuell. Wir haben uns dazu in diesem Blog insbesondere im letzten halben Jahr auch schon wiederholt geäußert. Nun hat das Landes­ar­beits­ge­richt Schleswig-Holstein die Begründung zu einem Urteil vom 27.09.2022 (1 Sa 39 öD/22) veröffentlicht, das einen weiteren interessanten Beitrag zu der anhaltenden Diskussion liefert, wie der Begriff der „Arbeitszeit“ modern zu interpretieren ist und wie die Abwägung zwischen den Vorteilen der Digitalisierung und den schutzbedürftigen Belangen der Arbeitnehmer:innen sachgerecht zu treffen ist. Alles was dazu wichtig ist, fasst Herr Rechtsanwalt Christian Kaiser zusammen.

Der Entscheidung liegt – sehr verkürzt dargestellt - folgender Sachverhalt zu Grunde:

Der Kläger ist als Notfallsanitäter für die Beklagte tätig. Für die Einteilung die Arbeitnehmer:innen in die konkreten Schichtpläne existiert eine Betriebsvereinbarung, die vorsieht, dass diese zunächst in Rahmendienstpläne eingeteilt werden, aus denen dann Soll-Dienstpläne und schließlich Ist-Dienstpläne entwickelt werden. Neben den typischen Tag-, Spät- und Nachtdiensten sieht die Betriebsvereinbarung auch vor, dass die Einteilung in einen sogenannten „unkonkreten Springerdienst“ erfolgen kann. Bei der Einteilung zu einem solchen Dienst ist der/die Arbeitnehmer:in lediglich verpflichtet, sich an dem jeweiligen Tag um 7:30 Uhr telefonisch bei der Beklagten zu melden, um dann zu erfahren, ob er/sie an diesem Tag Arbeitstätigkeiten zu erbringen hat.

Am 06.04.2021 endete der Dienst des Klägers um 19:00 Uhr. Zu jenem Zeitpunkt war seit dem 04.04.2021 für den nächsten Arbeitstag des Klägers am 08.04.2021 im Ist-Dienstplan ein „unkonkreter Springerdienst“ eingetragen. Am 07.04.2021 um 13:20 Uhr teilte die Beklagte den Kläger für den 08.04.2021 in einem Dienst in der Tagschicht einer bestimmten Rettungswache mit Dienstbeginn um 6:00 Uhr ein und trug dies in den Ist-Dienstplan ein. Der Versuch, den Kläger telefonisch zu erreichen, schlug nach Darstellung der Beklagten fehl. Sie übersandte dem Kläger am 07.04.2021 um 13:27 Uhr eine SMS, in der ihm die Dienstplanänderung mitgeteilt wurde. Am 08.04.2021 zeigte der Kläger um 7:30 Uhr telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsleistung an. Er wurde von der Beklagten, die zwischenzeitlich einen anderen Mitarbeiter aus der Rufbereitschaft herangezogen hatte, an diesem Tag nicht weiter eingesetzt. Die Beklagte erteilte dem Kläger eine Ermahnung, bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und zog dem Kläger elf Stunden von seinem Arbeitszeitkonto ab. Gegen beide Sanktionen wandte sich der Kläger gerichtlich und trug dabei vor, er habe die fragliche SMS nicht gelesen oder zur Kenntnis genommen. Eine SMS von einer unbekannten Nummer sortiere sein Handy aus und verschiebe sie in einen separaten Ordner. Diesen lösche er in unregelmäßigen Abständen. Er vermute, dass dies auch mit den SMS der Beklagten geschehen sei.

Während das Arbeitsgericht Elmshorn noch zu Gunsten der Beklagten entschieden hat, stellte sich das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein auf die Seite des Klägers.

Das Landesarbeitsgericht war nach Ermittlung des Sachverhalts zwar der Meinung, die fragliche SMS müsse dem Kläger zugegangen sein, allerdings kam es darauf nicht maßgeblich an.  Insbesondere kam es nicht darauf an, ob der Kläger die SMS tatsächlich gelesen hat oder nicht. Mit der Änderung des Dienstplans habe die Beklagte dem Kläger gegenüber ihr Direktionsrecht ausgeübt. Dabei handele es sich um eine empfangsbedürftige Gestaltungserklärung, die dem Kläger zugehen muss. Der „Zugang“ in Sinne der üblichen Definition sei dann erfolgt, wenn die SMS derart in den Machtbereich des Klägers gelangt ist, dass die Beklagte unter normalen Umständen mit der tatsächlichen Kenntnisnahme durch den Kläger habe rechnen dürfen.

Die Beklagte habe unter normalen Umständen nicht davon ausgehen dürfen, dass der Kläger die SMS vor 7:30 Uhr am 08.04.2021 zur Kenntnis nehmen würde. Vorher sei eine Kenntnisnahme durch den Kläger nicht zu erwarten gewesen.

Ein/e Arbeitnehmer:in sei nämlich nicht verpflichtet, sich in der Freizeit zu erkundigen, ob der Dienstplan geändert worden ist. Er/Sie sei auch nicht verpflichtet, eine Mitteilung des Arbeitgebers - etwa per Telefon - entgegenzunehmen oder eine SMS zu lesen. Beim Lesen einer SMS, mit der der Arbeitgeber sein Direktionsrecht im Hinblick auf Zeit und Ort der Arbeitsausübung konkretisiert, handele es sich um Arbeitszeit. Der/Die Arbeitnehmer:in erbringe mit dem Lesen eine Arbeitsleistung, denn damit handele er/sie ausschließlich zur Befriedigung des Bedürfnisses des Arbeitgebers, die ordnungsgemäßen Organisation der Arbeitsabläufe durch eine sachgemäße Personalplanung zu gewährleisten.

In seiner Freizeit sei der Kläger gerade nicht verpflichtet gewesen, eine Arbeitsleistung zu erbringen und sei sie zeitlich noch so unbedeutend. Vielmehr stehe dem Kläger das Recht auf Unerreichbarkeit zu. Freizeit zeichne sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer:innen in diesem Zeitraum ihren Arbeitgebern nicht zur Verfügung stehen müssen und selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo sie diese Freizeit verbringen.

Das Recht auf Nichterreichbarkeit diene neben der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer:innen durch Gewährleistung ausreichender Ruhezeiten (§ 5 Abs. 1 ArbZG) auch dem Persönlichkeitsschutz. Es sei also auch dann zu beachten, wenn – wie im vorliegenden Fall – die elfstündige Ruhezeit nach § 5 Abs. 1 Arbeitszeitgesetz durch die Arbeitsaufnahme nicht unterbrochen wird, weil diese zum Zeitpunkt der Dienstplanänderung bereits abgelaufen war.

Insgesamt ist das Landesarbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangt, der Kläger habe sich keinerlei Pflichtverletzung zuschulden kommen lassen. Daher müsse die Beklagte die Abmahnung aus der Personalakte entfernen und dem Kläger die Arbeitszeit für die von ihr nicht angenommene Schicht am 08.04.2021 gutschreiben. Ohne diese Bewertung näher zu begründen hat das Landesarbeitsgericht dem Fall auch eine „grundsätzliche Bedeutung“ für die Rechtsentwicklung zugemessen und daher die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.

Ohne vorwegnehmen zu können, wie das Bundesarbeitsgericht die dort unter dem Aktenzeichen 5 AZR 349/22 geführte Revision beurteilen wird, ist die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts in jedem Fall erhellend.

Das gilt zum einen deswegen, weil sie daran erinnert, dass sich viele arbeitsrechtliche Fragen mit dem grundlegenden juristischen Handwerkszeug beantworten lassen. Denn wenn der Arbeitgeber den Dienstplan ändert, dann kann die Änderung für die betroffenen Arbeitnehmer:innen natürlich eigentlich nur dann verbindlich werden, wenn diese über die Änderung informiert sind. Erfolgt die Information durch den Arbeitgeber in Anwesenheit des/der Arbeitnehmer:in, sollte es kein Problem geben. Für die Fälle der Information in Abwesenheit regelt § 130 Abs. 1 BGB, dass die Erklärung des Arbeitgebers in dem Moment Wirkung entfaltet, in dem sie dem/der Arbeitnehmer:in „zugeht“. Der „Zugang“ wiederum ist eine juristische Fiktion, die nicht auf die tatsächliche Kenntnisnahme abstellt, sondern auf die unter normalen Umständen mögliche Kenntnisnahme. Diese Systematik entspricht den grundlegendsten zivilrechtlichen Prinzipien und hat nichts zu tun mit irgendwelchen Besonderheiten des Arbeitsrechts.

Die Systematik dient auch dem Schutz des Arbeitgebers, der in vergleichbaren Fällen eben nicht nachweisen muss, dass der/die Arbeitnehmer:in die Mitteilung über die Änderung des Dienstplans tatsächlich erhalten hat. Vielmehr reicht die Darlegung aus, dass unter normalen Umständen eine Möglichkeit zur Kenntnisnahme vorhanden war.

Im vorliegenden Fall bestand für den Arbeitgeber jedoch die Schwierigkeit, dass er die Kenntnisnahme durch den Arbeitnehmer zu einer Zeit erwartete, in der dieser auf Grund des zuvor gültigen Dienstplans Freizeit hatte. Dass ein/e Arbeitnehmer:in in einer solchen Situation das Recht hat, für den Arbeitgeber unerreichbar zu sein und nicht mit einer Kontaktaufnahme durch den Arbeitgeber rechnen zu müssen, hat das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein im Anschluss an eine frühere Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Thüringen (Urteil vom 16.05.2018 - 6 Sa 442/17) festgestellt.

Darin, dass das Landesarbeitsgericht dieses „Recht auf Unerreichbarkeit“ erneut betont und überzeugend begründet hat, liegt die weitere Bedeutung der Entscheidung. Wie bereits ausgeführt wurde, ist der tatsächliche Sachverhalt hier nur sehr verkürzt dargestellt. Die Lektüre der vollständigen Sachverhaltsdarstellung in der veröffentlichten Entscheidung legt die Vermutung nahe, dass die Parteien durchaus grundsätzlichere Meinungsverschiedenheit haben. In einem tatsächlich unbelasteten Arbeitsverhältnis wäre aus einer vergleichbar späten und nur auf elektronischem Weg übermittelten Änderung des Dienstplans wohl kaum ein Fall für das Bundesarbeitsgericht geworden. Gleichwohl überzeugt die Begründung des Landesarbeitsgerichts, wenn es darauf abstellt, dass ein/e Arbeitnehmer/in sich nicht treuwidrig verhält, wenn er/sie darauf besteht, in der Freizeit keiner noch so zeitlich geringfügigen dienstlichen Tätigkeit nachzugehen. Vielmehr verhält sich der Arbeitgeber widersprüchlich, wenn er dem/der Arbeitnehmer:in einerseits Freizeit gewährt und aber andererseits von ihm/ihr verlangt, Arbeitsleistungen zu erbringen.

Für die arbeitsrechtliche Praxis wäre es hochinteressant gewesen, wenn das Landesarbeitsgericht sich auch zu der Frage geäußert hätte, ob eine zeitlich so geringfügige Arbeitsleistung wie das Lesen einer SMS dazu führt, dass die in § 5 Abs. 1 Arbeitszeitgesetz vorgeschriebene Ruhezeit von 11 Stunden nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit als unterbrochen zu werten ist und anschließend erneut eine Ruhezeit von weiteren 11 Stunden eingehalten werden muss, bevor die Arbeit wieder aufgenommen werden darf. Zu dieser Frage gibt es nämlich relativ wenige veröffentlichte Urteile, die zudem alle schon eine ganze Reihe von Jahren zurückliegen. Solange der Gesetzgeber das Arbeitszeitgesetz nicht ändert, wird die Frage der täglichen Ruhezeit weiterhin ein ausgesprochen kritischer Aspekt sein, wenn es um die Möglichkeiten und Grenzen der Flexibilisierung der Arbeitszeit geht. Leider gab der entscheidungserhebliche Sachverhalt dem Landesarbeitsgericht jedoch keinen ausreichenden Grund, sich mit dieser Frage zu befassen. Da die Revision in diesem Fall eingelegt worden ist, darf man jedoch noch die Hoffnung haben, dass sich das Bundesarbeitsgericht womöglich hierzu äußern wird. Für die Entscheidung des Sachverhalts wird es auf diese Rechtsfrage zwar nicht ankommen, aber es wäre nicht das erste Mal, dass die Erfurter Richter sich zumindest im Rahmen eines obiter dictum zu grundsätzlichen Fragen äußern und andeuten, wie zukünftig bestimmte Sachverhalte wahrscheinlich beurteilt werden. Es lohnt sich also, das „Schicksal“ der hier vorgestellten Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt zu verfolgen.

Sie haben Fragen zu den Regeln des Arbeitszeitgesetzes oder einem Recht auf Nichterreichbarkeit? Kontaktieren Sie Herrn RA Kaiser gerne!

 

Christian Kaiser, Fachanwalt für Arbeitsrecht