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Kanzlei-Blog Ulrich Weber & Partner

Recht auf Nichterreichbarkeit vs. Pflicht zur Entgegennahme und Beachtung von dienstlichen Weisungen während der Freizeit

Grundsätzlich steht Arbeitnehmern während ihrer Freizeit ein Recht auf Unerreichbarkeit zu, da Freizeit sich gerade dadurch auszeichnet, dass Arbeitnehmer dem Arbeitgeber während dieser Zeit nicht zur Verfügung stehen müssen und selbstbestimmt entscheiden können, wie und wo sie ihre Freizeit verbringen (vgl. u.a. LAG Thüringen, Urteil vom 16.05.2018 – 6 Sa 442/17, Rn. 43).

In seiner Entscheidung vom 23. August 2023, die nunmehr im Volltext vorliegt, hatte sich das Bundesarbeitsgericht (5 AZR 349/22) mit der Frage zu befassen, ob und inwieweit Arbeitnehmer gleichwohl dazu verpflichtet sein können, dienstliche Weisungen zur Zuweisung von Dienstzeiten per SMS auch in der Freizeit zur Kenntnis zu nehmen.

Um was genau ging es in dem Verfahren?

Der Kläger ist bei der Beklagten als Notfallsanitäter im Rettungsdienst beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der TVöD-VKA Anwendung. Bei der Beklagten besteht eine Betriebsvereinbarung „Arbeitszeitgrundsätze in der RKISH – Teil: Einsatzdient“. Diese sieht u.a. „Springerdienste“ vor, die der Kompensation aller an dem betreffenden Tag möglicher Dienstformen dienen. Für unkonkret zugeteilte Springerdienste als Tag-, Spät- und Nachtdienst können nach der Zuteilung weitere Konkretisierungen vorgenommen werden. In diesem Zusammenhang regelt die Betriebsvereinbarung, dass unkonkret zugeteilte Springerdienste für Tag- und Spätdienst bis 20 Uhr des Vortags vor Dienstbeginn im Dienstplan weiter konkretisiert werden können. Für den Fall, dass dies nicht geschieht, sah die Betriebsvereinbarung weiter vor, dass der Mitarbeiter sich zu Dienstbeginn an dem vom Arbeitgeber zugewiesenen Dienstort einzufinden habe. Während der Corona-Pandemie genügte dabei eine lediglich telefonische Mitteilung der Einsatzfähigkeit um 07:30 Uhr.

Für den Kläger war für den 8. April 2021 ein unkonkreter Springerdienst eingetragen. Am 7. April 2021 war der Kläger seit Dienstende am 6. April von der Arbeitsleistung befreit. An diesem Tag wurde er durch die Beklagte um 13:20 Uhr für einen Dienst am 8. April 2021 in der Tagschicht mit Dienstbeginn um 06:00 Uhr eingeteilt. Der Versuch, den Kläger telefonisch hierüber zu informieren, schlug fehl. Daraufhin übersandte die Beklagte dem Kläger um 13:27 Uhr eine SMS, mit einer Information über die Zuteilung des Dienstes.

Am 8. April 2021 zeigte der Kläger um 07:30 Uhr telefonisch seine Arbeitsbereitschaft an. Da die Beklagte zu diesem Zeitpunkt bereits einen Mitarbeiter aus der Rufbereitschaft herangezogen hatte, setzte sie den Kläger an diesem Tag jedoch nicht mehr ein. Sie bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen und zog vom Arbeitszeitkonto des Klägers elf Stunden ab. Zudem erteilte Sie dem Kläger eine Abmahnung.

Mit seiner Klage begehrte der Kläger die (Wieder-)Gutschrift von Arbeitsstunden auf dem Arbeitszeitkonto und die Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte.

Entscheidung der Vorinstanzen

Das Arbeitsgericht Elmshorn hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein hat der Berufung weitestgehend stattgegeben, jedoch die Revision zugelassen.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts

Die gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein (Urteil vom 27. September 2022 – 1 Sa 39 öD/22) gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem Bundesarbeitsgericht Erfolg. Dieses hob das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein auf und sah die Klage als unbegründet an.

Entgegen der von dem Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein vertretenen Auffassung, sah das Bundesarbeitsgericht einen Annahmeverzug der Beklagten als Voraussetzung des Anspruches auf Zeitgutschrift als nicht gegeben. Das Landesarbeitsgericht sei rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger die von ihm geschuldete Arbeitsleistung wie erforderlich angeboten habe.

Die Beklagte sei nach den einschlägigen Regelungen der Betriebsvereinbarung dazu berechtigt gewesen, die Zeitgutschriften in dem für den Kläger geführten Arbeitszeitkonto zu reduzieren. Der Kläger habe die von ihm geschuldete Arbeitsleistung unter Berücksichtigung von § 294 BGB in tatsächlicher Hinsicht nicht so angeboten, wie sie zu bewirken ist, mithin am rechten Ort, zur rechten Zeit und in der rechten Art und Weise entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen bzw. deren Konkretisierung nach § 106 Satz 1 GewO.

Zur Begründung führte das Bundesarbeitsgericht aus, dass der Kläger seine Einsatzbereitschaft nicht lediglich telefonisch um 07:30 Uhr hätte anzeigen dürfen, sondern sich zum Dienstbeginn um 06:00 Uhr auf der Wache hätte einfinden müssen. Es wies darauf hin, dass die Beklagte den Dienst des Klägers für den 8. April 2021 wirksam innerhalb des nach der Betriebsvereinbarung maßgeblichen Zeitfensters bis 20:00 Uhr des Vortags vor Dienstbeginn konkretisiert habe.

An der Wirksamkeit der maßgeblichen Regelungen der Betriebsvereinbarung hatte das Bundesarbeitsgericht keine Bedenken. Diese würden nicht von der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erfasst, wonach u.a. sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. Das Bundesarbeitsgericht wies darauf hin, dass die Sperrwirkung der Vorschrift nicht eingreife, soweit es sich um Angelegenheiten handle, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrates unterliegen, was bei der Betriebsvereinbarung, die Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie Grundsätze der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage der Fall sei (§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG).

Weiter führte das Bundesarbeitsgericht aus, dass der Konkretisierung des Dienstes auch nicht § 12 Abs. 3 TzBfG entgegenstehe, wonach der Arbeitgeber bei Arbeit auf Abruf eine Arbeitspflicht nur dann begründen könne, wenn er dem Arbeitnehmer die Lage der Arbeitszeit mindestens vier Tage im Voraus mitteile. Merkmal einer Abrufarbeit sei nach der Legaldefinition das Recht des Arbeitgebers, entsprechend dem Arbeitsanfall Lage und Dauer der Arbeit bestimmen zu können und die sich daraus ergebende Verpflichtung des Arbeitnehmers auf Abruf zu arbeiten. Ein solches Arbeitsverhältnis läge jedoch nicht vor, da die Dienste des Klägers in einer jährlichen Ist-Dienstplanung im Voraus festgelegt werden, wozu auch die Springerdienste gehörten.

Der Kläger könne sich auch nicht darauf berufen, dass er von der wirksamen Konkretisierung des Dienstes keine Kenntnis gehabt habe. Als Nebenpflicht aus dem Vertragsverhältnis oblag dem Kläger eine Verpflichtung, die Weisung der Beklagten über die Zuteilung des Dienstes zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Pflicht habe der Kläger auch außerhalb seiner eigentlichen Dienstzeit als Notfallsanitäter nachzukommen, da er insoweit auch vor der sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden Rücksichtnahmepflicht zur Verwirklichung des Leistungsinteresses zu leistungssichernden Maßnahmen verpflichtet werden konnte. Hierzu gehöre die Pflicht im Zusammenwirken mit dem anderen Vertragsteil die Voraussetzungen für die Durchführung des Vertrages zu schaffen, Erfüllungshindernisse nicht entstehen zu lassen oder diese zu beseitigen und dem anderen Teil den angestrebten Leistungserfolg zukommen zu lassen.

Einem seitens des Klägers gerügten vermeintlichen Erfordernis im Rahmen der geschuldeten Mitwirkungspflicht ununterbrochen für die Beklagte erreichbar zu sein, erteilte das Bundesarbeitsgericht eine Absage. Da der Zeitpunkt, bis zu dem die Beklagte eine Konkretisierung des Dienstbeginns und Dienstortes (20:00 Uhr) definiert sei, wäre eine Information ab dieser Zeit ausreichend. Dies hätte er jedoch machen müssen.

Eine Kollision mit dem Arbeitszeitgesetz bzw. den Regelungen der Richtlinie 2003/88/EG verneinte das Bundesarbeitsgericht gleichsam, da es sich bei der Kenntnisnahme der Weisung nicht um Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne handle, da hierdurch die Möglichkeiten des Klägers, seine Freizeit frei zu gestalten, nicht ganz erheblich im Sinne der maßgeblichen Rechtsprechung beeinträchtigt werden.

Bewertung für die Praxis

Für den Fall, dass individualvertraglich oder durch kollektivrechtliche Regelung (z.B. in einer Betriebsvereinbarung) wirksam das Recht zur Konkretisierung der Tätigkeit durch Ausübung des arbeitgeberseitigen Direktionsrechtes vorgesehen ist, besteht vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts die Erforderlichkeit von einer Verpflichtung des Arbeitnehmers auszugehen, entsprechende Weisungen auch in der Freizeit und auf privaten Endgeräten zur Kenntnis zu nehmen. Ob und inwieweit des der Fall ist, bedarf jedoch einer jeweiligen Prüfung im Einzelfall. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts beruht auf dem Umstand, dass hier eine konkrete Ausgestaltung der Festlegung der Arbeitszeit in einer Betriebsvereinbarung erfolgt ist. Eine allgemeine Verpflichtung zur Kenntnisnahme von arbeitgeberseitigen Weisungen oder zur Erreichbarkeit auch während der Freizeit lässt sich der Entscheidung indessen zutreffend wohl nicht entnehmen.